Malika Ferdjoukh: Die vier Schwestern

Die vier Schwestern

von Malika Ferdjoukh

Als ich diesen Blogbeitrag begonnen habe, fiel mir als Erstes auf, dass ich den ganz und gar unsäglichen Nachnahmen „Ferdjoukh“ tatsächlich, ohne ein einziges Mal auf dem Buchcover nachzusehen, richtig schreiben konnte. Wie kann das sein? Ich kann mir nicht die Matrikelnummer auf meinem Studentenausweis merken, nicht die Geburtstage meiner Freunde und auf keinen Fall komplizierte Namen von Autor_innen.

Nach reiflicher Überlegung kam ich zu folgendem Grund für meine Expertise auf dem Gebiet des Nachnahmen Ferdjoukh: Klassische Konditionierung nach Pawlow. In meiner Heimatbibliothek, in der ich die Buchreihe gefühlt jeden Monat einmal ausgeliehen hatte, konnte man den Autor oder die Autorin eines Buches und den Titel in einen Computer eingeben, der einem dann anzeigte, ob man sein Lieblingsbuch würde in die Arme schließen können oder ob jemand anderes gewagt hatte es auszuleihen (eine Urform des OPAC). Gab man den Namen des Autors oder der Autorin jedoch auch nur um einen Buchstaben falsch ein, erschien diese nervtötende Error-Seite, und man musste alles nochmal von vorne beginnen. Ihr versteht, die Error-Seite war in diesem Fall die Glocke, die ich fürchtete. Also gewöhnte ich mir an, den Namen gleich beim ersten Mal richtig zu schreiben. Tja, da soll noch einer/eine meiner Dozierenden sagen, Druck und Angst erzeuge Lernblockaden…

Malika Ferdjoukh hat nicht nur einen bezaubernden Namen, sie hat auch echt starke Nerven. Also bitte: Was ist denn das für eine Geschichte? Fünf Schwestern, deren Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben kamen, wohnen (ALLEIN) in einer alten, morschen Villa an der bretonischen Atlantikküste. Und zwar richtig an der Küste, nicht nahe der Küste, sondern literally an einer Steilklippe. Die Älteste hat im zarten Alter von 21 Jahren ihr Studium geschmissen, um sich rührend um ihre Geschwister zu kümmern. Das Geld ist knapp, aber die Familie hält zusammen. Holy shit, holy poverty. Was ist denn das für 1 Kitsch??

Dachte ich. Hab es dann aber natürlich doch gelesen.

Fünf Namen, die dem der Autorin alle Ehre machen: Charlotte (Charlie), Geneviéve (okay, hier hab‘ ich nachgeschaut), Bettina, Hortense und Enid Verdelaine. Der Titel betrügt uns um eine Schwester, genauer gesagt um Charlie. Sie zählt zur Welt der Erwachsenen und bekommt kein eigenes Buch. Ich finde, sie hätte eins verdient, Sauerei.

Die Rahmengeschichte ist ja nun recht traurig, wunderbarerweise sind die Bücher größtenteils das genaue Gegenteil: sehr lustig. Was sage ich. Das Gegenteil? Vielleicht ist das falsch, denn oft sind die lustigen Stellen die, die einem auch das Herz gefrieren lassen, die traurigen Stellen haben oft eine irrwitzige, tragisch-komische Note.

Die Reihe gliedert sich in vier Bücher, für jede Schwester eins, beginnend mit der jüngsten.

Enid, im ersten Buch etwa acht Jahre alt, ist ein bisschen Harry Potter, Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist in einem. Harry, weil sie diesen scheinbar durch kein Wässerchen getrübten, aufrichtigen, ein wenig treu-doofen Charakter hat, der durch den frühen Verlust der Eltern wunderbarer Weise keinen Schaden genommen hat. Pippi, weil sie durch Phantasie und kleine Schwindeleien stets das Gute zu schaffen versucht und Kalle, weil sie es nicht lassen kann, gemeinsam mit ihrem Freund Gulliver in jeder noch so kleinen Unregelmäßigkeit ihres Alltags ein Abenteuer zu entdecken. Ein Kind, wie es im Buch steht (LITERALLY).

Bezeichnend für alle Bände ist, dass sie, obwohl sie den Namen von nur je einer Schwester tragen, stets Familiengeschichten sind. Zwar wird eine Figur etwas mehr beleuchtet als die anderen, aber im Grunde geht es doch immer um die Schicksalsgemeinschaft der Schwestern. Der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Bände den Zeitraum eines Jahres abdecken, angefangen bei Herbst, bis zum Sommer des nächsten Jahres. Deshalb kann ich die Bücher nicht als einzelne Geschichten behandeln, sondern habe sie alle zusammen immer als eine Art Vergrößerungsglas empfunden, die mir einen Einblick in die Welt einer verschlafenen, kleinen französischen Stadt, irgendwann kurz nach Beginn des 21. Jahrhunderts geben…

Im Herbst wird oft aus Enids Perspektive erzählt, von den heulenden Herbststürmen, die so heftig um die Villa Hervé brausen, dass eine Sykomore im Garten umstürzt und kopfüber in einem alten Brunnen landet. So muss Enid gleich um zwei ihrer engsten Gefährten bangen: Ihr Eichhörnchen Blitz, das im Baum lebte und eine kleine Fledermaus, die sie Swift getauft hat und in besagtem Brunnen lebte. Doch nicht nur nach ihnen macht sie sich auf die Suche, auch einem schreckliches Heulen, das die Schwestern nachts wachhält, will sie auf den Grund gehen.

Enids Welt ist bevölkert von beseelten Gegenständen und Tieren. Für mich ist gut vorstellbar, dass sie schon immer ein phantasievolles Kind war, sich nach dem Tod ihrer Eltern aber noch mehr ihre eigene Welt erschuf. In späteren Büchern werden wir Zeugen von köstlichen Gesprächen zwischen Enid und ihrem Freund, dem Geist, der im Spühlkasten wohnt und stets treu mit „tok“ (ja) und „tok tok“ (nein) antwortet.

Eine sehr witzige Nebengeschichte kommt durch den Besuch von Colombe in Gang, der Tochter einer Freundin des Hauses. Ausgeglichen, bildhübsch und für das männliche Geschlecht sehr anziehend wird sie für Bettina, die ganz verrückt ist vor Eifersucht, zur Zielscheibe von Intrigen und Sticheleien.

Das erste Buch muss natürlich nebenbei alle Charaktere einführen, und das gelingt so spielend leicht, als habe man sie schon immer gekannt. Charlie, die Älteste, wirkte auf mich immer zugleich unerschütterlich und zerbrechlich. Unerschütterlich, weil sie den in meinen kindlichen Augen furchtbaren, grässlichen und angsteinflößenden Erwachsenentätigkeiten nachgehen muss: Rechnungen bezahlen, den Haushalt schmeißen, Verantwortung übernehmen. Charlie konnte alle Dinge, die ich auch können wollte. Feuer machen, kochen, das Dach reparieren, gut aussehen, schlagfertig sein, irgendwie „bad ass“ sein. Eine Mega-Powerfrau. Im dritten Buch wird aber deutlich: Charlie leidet unter der Situation in der Villa Hervé mehr, als sie zugeben mag. Erst, als ich langsam älter wurde, wurde mir klar, auf was sie alles verzichtete: Die Chance, andere Männer und Frauen kennenzulernen als ihren jetzigen Freund, eine bessere Ausbildung, Zeit nur für sich und ihre Interessen, die Erfahrung in einer anderen Stadt zu leben. Für mich ein kaum vorstellbares Leben. Ich habe drei Schwestern. Wenn ich mir vorstelle, wir würden wir plötzlich ganz allein dastehen, ich weiß nicht, welche von uns die Kraft hätte, uns alle zusammenzuhalten.

Die nächste im Bunde, Geneviéve, ist zu Beginn 15 oder 16 Jahre alt. Der Vergleich mit Rosalind von den Penderwicks liegt nahe, denn Geneviéve ist zwar nicht die Älteste, nimmt aber trotzdem irgendwie Rosalinds Part in dieser Geschichte ein. Sie versucht sich, so gut sie kann, sich um die anderen zu kümmern und vergisst darüber manchmal ihre eigenen Bedürfnisse.

Eine meiner Lieblingsszenen über Geneviéve aus dem dritten Buch. Hortense schreibt:

„Gestern hat Geneviéve in der Küche einen Teller auf den Boden fallen lassen. Extra. Nur um zu hören, was für ein Geräusch das machen würde. Sie hat es schließlich zugegeben. Also, ich sage euch, dass unsere gute Geneviéve hinter ihrer Maske der heiteren, hübschen, langbeinigen Blondine die Verrückteste von uns allen ist.
Aber das weiß nur ich alleine.“

Band 2, Winter, Hortense

Hortense, die wachsam hinter die Fassade ihrer Mitmenschen schaut und sich dabei unauffällig im Hintergrund hält, schätzt ihre Schwester tatsächlich richtig ein: Geneviéve hat eine geheime Leidenschaft, die sie nie zugeben würde und die es vor zeitweise erlaubt, aus der Rolle der sorgenden Schwester herauszutreten.

Bettina… zur ihr kann ich am wenigsten sagen. Die Schwester in der allermittigsten Mitte, die dritte von fünf. Keine nimmt ihre ständigen Sticheleien wirklich ernst, keine regt sich über die Maßen über ihre Macken und Eigenheiten auf. Sie ist die einzige Schwester, die so etwas wie eine Clique hat, DBB (Denise, Bernadette, Bettina), sie braucht ihre Schwestern meistens weniger als die Gemeinschaft der Freundinnen. Bettina ist einer dieser Menschen, der aus allem ein Drama machen kann, der Rachepläne nicht nur schmiedet, um dann still vor sich hinzuleiden, sondern sie wirklich in die Tat umsetzt.

Hortense schreibt Tagebuch. Damit ist wohl einiges gesagt; wer sich in so einem turbulenten Haushalt die Zeit für persönliche Memoiren nimmt, dem ist eine kreative Künstlerinnenader (mit allem was dazugehört) nicht abzusprechen. Hortense leidet an der Welt und ihrer eigenen Schüchternheit, ihre liebste Verbindungsschwester ist Geneviéve (zum frühreifen Austausch und gemeinsamen Trauern), ihre liebste Streitpartnerin Bettina (um Vorwürfe auszutauschen – „Du bist so oberflächlich wie eine Kratzbürste, die auf Platin schrappt!“ – „Du bist do weltfremd wie…. naja wie eben sein kann, wenn man ständig hinter Büchern hockt!“ (Bettina ist einfach weniger wortgewandt…)). Auch Hortense pflegt ein geheimes Hobby, das ihr keiner zutraut. Wer nicht sowieso mit einer oder mehreren Schwestern aufgewachsen ist, dem wird spätestens nach den ersten Szenen beim Abendessen in der Villa Hervé klar, dass geheime Lieb- und Leidenschaften überlebenswichtig sind, um dem Familienchaos ab und zu entkommen.

Ein letztes wichtiges Rahmenelement sind die Geister der verstorbenen Eltern, die immer wieder zu den unmöglichsten Zeitpunkten (und in den schrillsten Aufzügen) auftauchen. Jeder Schwester erscheinen sie einige male, beiläufig erkundigen sie sich nach dem Fortkommen der Tochter und verschwinden genauso schnell, wie sie aufgetaucht sind.

Wenn Euch Personen, die ganz sicher tot sind, auf dem Klo oder im Schulbus überraschen würden, was würdet Ihr tun? Eben. Erzählt ihr davon, werden alle denken, JETZT seid ihr völlig übergeschnappt. Genauso halten es die Schwestern. Jede ist überzeugt, dass sie sei einzige Auserwählte ist, der sich Mutter und Vater zeigen. Damit einher gehen ein leises Unbehagen, aber auch eine Form des Stolzes und des Erinnerns.

„Doch da merkte sie, dass ihre Mutter sich wieder verflüchtigt hatte. Wie immer.
Sie war allein. Sie wartete noch einen Augenblick, dann sagte sie mit halblauter Stimme:

„Na gut. Ich werde sehen, wie ich allein damit zurechtkomme. Aber trotzdem vielen Dank, Mama.““

            Band 3, Frühling, Bettina (Im Zitat spricht aber Hortense!)

Im Alltag geht es wie gesagt turbulent zu. Malika Ferdjoukh beherrscht die Kunst der Situationskomik vielleicht sogar noch einen Tick besser als Hilary McKay, und das will was heißen. Beim Lesen hat man immer wieder den Eindruck, das Geschehen spiele sich wie eine Comic-Szene vor dem inneren Auge ab (es gibt auch eine Graphic-Novel-Version, illustriert von Cati Baur, große Kunst!). Hat man aber gerade Sehnsucht nach einem Hauch von Meereswind um die Nase habt, gibt es wunderschöne Landschaftsbeschreibungen. Würde, um dieses Buch im Original lesen zu können, sogar französisch lernen.

 

Lasst Euch mitnehmen. Das klingt wie eine Phrase, die man gerne in Bücherblogs vor sich hinschreibt, aber auf kein Buch trifft es so gut zu wie auf dieses: Genießt das Privileg, der Familie Verdaleine für ein Jahr nahe sein zu dürfen. Sie werden sich nicht um euch kümmern. Vielleicht nur zerstreut den Kopf von Rechnungen, Tagebüchern und Liebesbriefen heben und euch fragen:

„Was soll denn das für eine Veranstaltung sein?!“

           

 

 

 

 

Kommentare

Beliebte Posts