Gabriele Beyerlein. Die Keltenkinder

 Die Keltenkinder

von Gabriele Beyerlein

„Bis er uns gemeinsam in den Wald geschickt hat, einen ganzen Sommer lang, wir zwei in dem wilden Wald im Norden. Das ist der Wald der Felsen und Höhlen, der Bären, Wölfe, Eber und Auerochsen, der Wald der Hexen, Kobolde und Gnome.“

Es gibt Wortgruppen, die für mich mit einem so starken Zauber umgeben sind, dass mein Herz schneller klopft, wenn ich sie höre. Wald, Feuer, Fluss, Abenteuer, Gefahr, Morgennebel, klirrende Schwerter. Und am faszinierendsten fand ich schon immer, dass all das zwischen zwei Buchdeckel passt. Nichts als Buchstaben, Tinte auf Papier. 

Als Kind waren es vor allem diese profanen, sinnlichen Genüsse, die Bücher für mich wertvoll machten.

Wieder ein Buch, von dem ich immer wusste, wo es in unserer Kleinstadtbücherei stand. Eines Tages war es nicht mehr auffindbar. Großer Schreck. Und dann noch größere Erleichterung, als ich es bei den aussortierten Exemplaren am Ausgang stehen sah, die man für 20 cent das Stück erwerben konnte. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Was mir an diesem Buch gefiel, war die Geradlinigkeit. Schnörkellos und doch sinnlich wird das Leben der Kelten zur Eisenzeit beschrieben. Die Geschichte handelt von den Kindern einer Sippe, die als Ziehtöchter und -söhne bei ihrem Onkel Isarnogenos und ihrer Tante Mandua leben. So will es der Brauch: Wenn Kinder um die sieben Jahre alt sind, müssen sie bis in die Pubertät hinein fort von ihren Eltern, um bei Freunden oder Verwandten aufzuwachsen. Fuck you, kindliches Bindungsbedürfnis.

Brigit erlebt mit ihrem Bruder Artus den Alltag in einer wohlhabenden, traditionsreichen keltischen Stadt in der Gegend, in der heute Nürnberg liegt. Sie muss Blutsgesschwisterschaft schließen mit einer Gemeinschaft, in der Conomor, der Älteste und Stärkste, unangefochten regiert. Marus, der Nächste, steht ihm als wortgewandter Witzbold zur Seite und Artus und Merta, die Mittleren, müssen bei bei all den Streichen gegen verfeindete Kinderbanden anderer Sippen loyal mittun. Venetius, der dank Brigit nicht mehr der Jüngste ist, wird von allen als Feigling verspottet, weil er zögert, wenn die Gruppe sich für die Ehre kopflos in allerlei Gefahren stürzt.

Der Gruppenzwang, der aus dieser Konstellation wächst, ist Programm. Die Kinder haben es so gelernt: Sippen bekämpfen sich gegenseitig, Menschen aus fremden Gegenden sind gleichbedeutend mit Feinden, die es, wenn möglich, zu vernichten gilt. Jede Person, die dem Anführer nicht unwidersprochen huldigt, wird ausgestoßen. Treue wird belohnt, anderer Meinung sein macht Probleme.

Die Einigkeit in der Gruppe beginnt zu bröckeln, als Merlin hinzustößt. Sein Ziehvater ist im Krieg gefallen, nun soll er mit den Cousins und Cousinen aufwachsen. Merlin wird einmal ein Barde werden, genau wie sein Vater, oder vielleicht sogar Druide. Er muss deshalb nicht in der Schmiede von Isarnogenos arbeiten wie Conomor, nicht wie Artus, Marus und Venetius auf dem Feld helfen, und schon gar nicht an den Arbeiten in Haus und Hof teilnehmen, wie Merta und Brigit.

Merlin steht den Regeln und Gesetzen der Geschwister zunächst völlig ahnungslos, als er beginnt, sie zu begreifen, auch gleichgültig gegenüber. Er will Druide werden, was kümmert es ihn da, dass Conomor von ihm erwartet, dass er, da zwei Jahre älter, die Herrschaft an sich reißt: Merlin weigert sich schlicht, sich auf ein Kräftemessen mit Conomor einzulassen. 

Seine Qualitäten sind von anderer Natur: Er kann Harfe spielen und singen, und er hat den ganzen Tag Zeit zum Lernen und Nachdenken. Die Zieheltern nehmen Rücksicht auf ihn wie auf ein rohes Ei. Merlin seinerseits weiß seine Stärken für die Gemeinschaft einzusetzen und erfindet eine neuartige Erntemaschine. Damit hat er die Anerkennung der Sippe vollends gewonnen. Währenddessen wächst der Groll von Conomor und Marus ins Unermessliche. Der eingebildete Schöngeist macht ihnen die Zuwendung ihres Onkels streitig! Die anderen Kind hin und hergerissen zwischen ihrer Loyalität für die Großen und ihrem Rechtsgefühl: Merlin hat ihnen doch eigentlich gar nichts getan!

Als Mandua hinter den Grund für die Feindschaft unter den Kindern kommt, spricht der Onkel kurzerhand ein Machtwort: Alle seine Zöglinge müssen gemeinsam einen Sommer lang im Wald nördlich der Siedlung hausen. Das soll sie, wie er sagt, wie Eisen zusammengeschmolzen werden, um dann als neu geschmiedete, verbundene Glieder einer Kette wiederzukehren.

 

Der Motor der Geschichte liegt darin, dass starren Regeln von Rangordnung und Gehorsam immer wieder durchbrochen werden. Schien es zunächst in Konfliktsituationen die beste Lösung zu sein, blind auf Conomors Urteil zu vertrauen, zeigt sich auf der Reise, dass es die Mischung aus verschiedenen Ansichten ist, die das Zusammenleben sicherer und gewinnbringender für den Einzelnen machen. 

Auch wenn die Kinder einige Male sie Regeln der keltischen Sippen brechen, werden letztendlich für ihren Mut belohnt, weil sie nie einen Zweifel über die Dringlichkeit des Grundes aufkommen lassen. Dabei machen sie sich die unterschiedlichen Stärken der Einzelnen zu Nutze: Wer wortgewandt seinen Vorteil aus einer Situation schlagen kann, ist mitunter erfolgreicher als einer, der nur seine Muskeln spielen lassen kann.

Wieviel historische Wahrheit im Buch steckt, weiß ich nicht genau. Die Autorin hat vor der Veröffentlichung des Buches immerhin Rücksprache mit einem Archäologen gehalten und hinten im Buch ein kleines Glossar mit unbekannten Begriffen eingefügt. Ob das Ganze historisch korrekt war, war mir aber sowieso egal. Wichtiger waren für mich die romantischen Vorstellungen, die den zeitlosen Reiz dieses Buches ausmachen: Die Idee von echter Gemeinschaft, in der man für einander einsteht, Streit und Versöhnung, die Naturschilderungen, die deren Schönheit und Grausamkeit zugleich betonten und ein endloser Sommer ohne Eltern.

Es ist vielleicht kein großes Stück Literatur. Die Charaktere sind zwar markant (der Starke, der Scherzkeks, der Schöngeist, die Mitfühlende, die kleine Naseweise), aber doch recht eindimensional, die Handlung ist zwar spannend, aber nicht übermäßig originell. Aber Kinderliteratur muss meiner Meinung nach solchen Standards nicht genügen. Vielleicht werfe ich mich hier ins Kreuzfeuer strenger Literaturdidaktiker_innen, die sicher schlauer und erfahrener sind als ich. Und vielleicht trifft das auch nicht auf alle Kinder zu. Aber mein zehnjähriges Selbst fand die größte Erfüllung in Büchern, die meine Sehnsüchte gestillt haben, nach Abenteuer, Witz, großen Geschichten, Erfahrungen, die meine und nicht meine waren, Figuren, die ich lieben konnte, manchmal auch Weltflucht. Auf jeden Fall nach Lebendigkeit.

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