Hans Magnus Enzensberger. Der kurze Sommer der Anarchie
Der kurze Sommer der Anarchie
von Hans Magnus Enzensberger
„Eine
alte Wanduhr, auf dem Trödelmarkt erworben, tickt mit quälender Langsamkeit.
Ein Hotchkins-Maschinengewehr, zwei tschechische Schnellfeuergewehre und
zahlreiche Winchestergewehre…
… samt großen Vorräten an Munition stehen in einer Wohnung in der Straße
Pujadas Nr. 276 bereit…“
Es folgt eine Beschreibung der Männer, die sich in besagter Wohnung versammelt haben. Sie stehen oder sitzen, rauchend, nervös, trunken, vor Schlafmangel, in den Zimmern, die Luft ist zum Zerreißen gespannt. Abwarten. Kräfte sammeln. Um dann wieder…
„Ein Hotchkins-Maschinengewehr, zwei tschechische Schnellfeuergewhre und zahlreiche Winchestergewehre…“
Der Bericht Luis Romeros über diese Stunden endet mit der Wiederholung der Waffenaufzählung zu Anfang: Immer wieder gehen die Männer im Kopf die Pläne durch, immer wieder vergewissern sie sich der Waffen, die ihnen das Leben retten und Spanien vor einer Diktatur bewahren sollen; die Anarchisten der CNT bereiten sich auf den bevorstehenden Militärputsch von Francisco Franco und seinen Mitstreitern vor.
Was ist das für ein Buch? Eine Dokumentation? Ein
Zeitzeugenbericht? Ein Roman? Letzteres steht jedenfalls auf dem Buchcover.
In
meinem Fall ist das Buchcover mit etwas Öl beschmiert. Ich hatte es im Urlaub
dabei, tagsüber wandern, nachts zelten. Ein Fläschchen Öl ist dabei im Rucksack
ausgelaufen und hat Spuren auf diesem Buch hinterlassen. Auf den Seiten unterstrichene Sätze, Verweise auf andere Seitenzahlen,
Randnotizen. Dieses Buch kommt ohne eine konzentrierte Beschäftigung, ein Überall-Mit-Hinnehmen nicht aus. Das hinterlässt Spuren.
Hans Magnus Enzensberger versucht in seinem Roman, die Spuren, die Anarchist_innen in der jüngeren Geschichte Spaniens hinterlassen haben, nachzuzeichnen. Im Fokus steht der Bürgerkrieg 1936-1939 mit seiner Vorgeschichte, und vor allem: Buenaventura Durruti. Der Mechaniker aus Léon wird als eine zentrale Figur der Geschehnisse beschrieben, über den sich posthum Mythen und Geschichten bildeten wie über kaum ein anderes Gesicht der Bewegung.
Von Zeitungsartikeln über Flugblätter bis hin zu mündlichen
Erlebnisberichten reichen die Zeugnisse, die der Autor versammelt. In einem
Archiv für Sozialgeschichte recherchiert er die schriftlichen Dokumente, in einem
Dokumentarfilm interviewt er Zeitzeug_innen, die zum Erscheinungsdatum des
Buches 1972 noch am Leben waren, und übersetzt diese Berichte oftmals selbst.
Nach kurzer Zeit ertappte ich mich dabei, wie ich schon beim Lesen eines
Abschnitts unter den Text schielte, mit wessen Aussage ich es hier zu tun
hatte. In kaum einem anderen historischen Roman wurde ich mir so bewusst, wie
Geschichte entsteht: Die einen sagen so, die anderen so.
Außerdem werden in acht vom Autor verfassten Texten Hintergrundinformationen wie politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhänge zwischen den beschriebenen Ereignissen beleuchtet.
Hier werden zum Beispiel Hypothesen entworfen, warum in Spanien, anders als in anderen europäischen Ländern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Ideologie des Anarchismus und nicht die des Kommunismus großen Anklang fand.
Vier Zeitabschnitte kann man grob beim Lesen erkennen: Zuerst die Zeit der Militärdiktatur unter Primo de Rivera 1923-1931, gefolgt von der zweiten spanischen Republik 1931-1936. Durruti und die engsten seiner Gefährten (z.B. Francisco Ascaso, Juan García Oliver) bilden in den 20er Jahren die Gruppe „Los Solidarios“, sozusagen den harten Kern der CNT (Confederación Nacional del Trabajo, die damals größte Gewerkschaft Spaniens). Die Männer beschaffen durch Banküberfälle und andere Diebstähle Geld und Waffen für den Kampf der CNT mit den Militärs und später auch der bürgerlichen Demokratie. Durruti zum Beispiel überfällt kurzerhand eine Wechselstube, um Geld für die Gründung einer freien, den Grundsätzen des Anarchismus verpflichteten Schule zu rauben. Gaston Leval, ein französischer Anarchist, urteilt über diesen Vorfall später:
„Ein solches Vorgehen kann man nicht mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch in der Hand beurteilen. Sehen Sie, ich habe selbst Situationen erlebt, in denen ich vielleicht bereit gewesen wäre zu töten, vorausgesetzt, ich hätte den Mut dazu gehabt. Man muß das Elend, das entsetzliche Elend gesehen haben, das damals in Spanien herrschte, um die Verzweiflung dieser Männer zu verstehen und ihre Handlungen zu begreifen.“
Dieses Elend wird in den „Glossen“ von Enzensberger gründlich beschrieben: Das Stadtproletariat Barcelonas oder Madrids ist mit der vollen Brutalität des Industriekapitalismus ohne große soziale und gesundheitliche Absicherungen konfrontiert, die große Mehrheit der Landbevölkerung mit mittelalterlichen Zuständen (Unfreiheit, kein eigenes Land, Armut). Beiden Gruppen steht zudem die katholische Kirche als unnachgiebiger Machtblock gegenüber, der die Reichen schützt und die Situation der Armen nicht verbessert.
Durruti muss zweitweise ins Exil nach Frankreich fliehen, was, geographisch gesehen, den zweiten Abschnitt des Buches bildet. Staionen in Mittel- und Südamerika lassen ihn zu einem weltweit gesuchten Terroristen werden. Nach Abdankung des Königs Alfons des XIII. 1931 kann er wieder zurückkehren. Während der zweiten Republik ruft die CNT wann immer möglich zum Boykott der demokratischen Wahlen auf. Sie wollen diese bürgerliche Demokratie nicht, die nichts Grundsätzliches an der Situation der Arbeiter_innen verändert.
Unterdessen gewinnt die faschistische Bewegung um Francisco Franco immer mehr Anhänger_innen. Die CNT beobachtet die Geschehnisse und bewaffnet sich: Im Juli 1936 kommt es auch in Barcelona zum Putsch der Rechten. Aus dieser Episode ergibt sich der dritte Zeitabschnitt, in dem über die den Putsch, den Sieg, die Etablierung einer Art anarchistischen Republik in Katalonien und den Feldzug in Aragón berichtet wird. Ziel dieses Einsatzes, den tausende, auch interntionale Freiwillige (auf einmal lese ich einen Bericht von Simone Weill, diese Frau hat in ihrem kurzen Leben anscheinend nichts ausgelassen), auf sich nehmen, ist es, Aragón vor den Faschisten zu verteidigen. Auch Durruti führt eine Kolonne an. Spätestens hier tun sich Fragen auf, die sich der Bewegung nach dem Sieg über die Putschisten aufdrängen:
Wie mit der weiterhin drohenden Gefahr im Rest des Landes umgehen? Sich mit der bürgerlichen Regierung zusammenschließen oder die CNT als diktatorische Macht installieren? Wie die Produktivität der Betriebe sichern? Wie die Milizen motivieren, die mehr schlecht als recht bewaffnet und dürftig gekleidet sind? Wie die eigenen Leute daran hindern, die verhassten Kirchen willkürlich niederzubrennen, Menschen zu erschießen und zum eigenen Vorteil zu plündern? Wie die vielen freiwilligen Kämpfer im Kampf gegen den übermächtigen Feind organisieren, wenn kaum jemand eine militärische Ausbildung besitzt? Und überhaupt: Wie eine Armee führen, die sich eigentlich dem anarchistischen Grundsatz der Freiwilligkeit verpflichtet hat? Durruti selbst soll laut Il’ja Erenburg in dieser Zeit gesagt haben: „Es ist schwer, alles auf einen Schlag zu ändern. Die Prinzipien und das Leben decken sich nicht.“
Im vierten Teil schließlich zieht die „Kolonne Durruti“ weg von der Front nach Madrid, um der Stadt bei der Verteidigung gegen die Putschisten zu helfen. Doch die Milizen sind erschöpft, manche können einfach nicht mehr. In dieser Zeit häufen sich Berichte über Durruti, wie um ihm ein letztes Denkmal zu setzen. Er scheint ein Typ zu sein, dem die Hoffnung in schwersten Zeiten, auch in Abwesenheit jeglicher Naivität, nicht verloren geht.
Am Ende klappte ich den Buchdeckel einigermaßen benommen zu, fühlte mich, als sei ich aus einem Meer anderer Leute Schreie, Meinungen und Überzeugungen aufgetaucht. Nicht mal über den Tod Durrutis war man sich am Ende einig: Waren es die Rechten, die Kommunisten, gar die eigenen Leute oder doch ein Unfall?
Ich beschäftige mich weiter mit dem Thema, sehe einen Film, in dem verschiedene Personen den Anarchisten Kataloniens Anfang der 2000er Jahre noch einmal auf den Grund gehen wollen (hier kann man ihn anschauen, das Internet bringt doch noch ein paar sinnvolle Dinge zustande… https://www.youtube.com/watch?v=rvm7A3L_j9A). Die Personen spielen eine Szene kurz vor Durrutis Tod nach: Fünf Anarchisten sitzen im Auto. Der, der Durruti darstellt, sitzt auf der Rückbank, steigt aus, wird erschossen - Ein Fehler, denke ich. Durrutis Chauffeur erzählt im Buch, Durruti habe immer vorne gesessen…
Wer kennt die Wahrheit? Colette Marlot, Durrutis Tochter, kennt die einzige, diffuse Wahrheit, die das heutige Spanien ihrer Meinung nach über Durruti zulässt:
„Natürlich, jetzt wo er tot ist, wollen alle ihn für sich reklamieren. Solange er lebte, haben sie ihn gejagt wie einen Verbrecher. Jetzt findet sogar die Bourgeoisie etwas Gutes an ihm, und die Pfarrer wollen ihn einbalsamieren. Ein toter Revolutionär ist eben immer ein guter Revolutionär.“
Die Faszination des Buches bestand für mich auch darin, dass
ein Kapitel europäischer Geschichte beleuchtet wird, das wie aus dem Gedächtnis
der Geschichtsbücher getilgt scheint. In der Schule, in der Uni, in Zeitungen oder im Fernsehen,
nie habe ich etwas über diesen Revolutionsversuch gehört. Das liegt sicher auch
an der Konzentration auf das jeweils eigene Land in der Geschichtsvermittlung, dennoch
umrahmt, zumindest für mich, diese Zeit der Anschein des Verborgenen und
Nicht-Aufgearbeiteten.
Die Geschichte scheint an vielen Stellen nicht
auserzählt zu sein. Das liegt auch daran, dass die CNT, außer ihren Zeitungen
und Propaganda-Schriften, wenig schriftliche Zeugnisse von sich ablegten; wer
jeden Tag seinen Lebensunterhalt in Fabriken und Werkstätten verdient oder
zwecks Geldbeschaffung Banken ausraubt, hat wenig Zeit, seine Memoiren
niederzuschreiben. Die CNT beschäftigte zu dieser Zeit keine Funktionäre, die
sich um Dinge wie „Öffentlichkeitsarbeit“ oder Mitgliedsbeiträge kümmerten –
ihre Mitglieder lebten von der Hand in den Mund und vom Weitererzählen der
eigenen Geschichte.
Lest dieses Buch, wenn Ihr Euch für die Geschichte Spaniens interessiert. Wenn Ihr Euch für Anarchismus interessiert. Nicht für den "Freizeit-Anarchismus", sondern den, der Verhältnisse in der Gesellschaft wirklich umstürzen und neu organisieren will. Lest es, wenn Ihr hautnah miterleben wollt, wie Geschichte sich zusammenspinnt. Und wenn Ihr der Meinung seid, dass es sich immer lohnt, genauer hinzuschauen.
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