Die roten Matrosen, Mit dem Rücken zur Wand, Der erste Frühling. Von Klaus Kordon

Die roten Matrosen, Mit dem Rücken zur Wand, Der erste Frühling

von Klaus Kordon

Jeder Mensch fragt sich: Wo komme ich her? Was für einer oder eine bin ich denn? Wie kam es dazu, dass es mich gab? Wo kommen meine Leute her? Und wo will ich hin?


Hans stellt sich diese Fragen. Er ist fast 15 Jahre alt, wohnt im Jahr 1932 im Berliner Wedding und geht jeden Morgen zur Arbeit in die Lagerhallen der AEG Brunnenstraße, eine Fabrik der Allgemeinen Elektricitäts Gemeinschaft. Dort packt er Kisten mit Stahlwolle und Eisenrohren aus und um, muss arbeiten wie ein Erwachsener. Ausbildung ist nicht, kaum ein Betrieb will in der aufkeimenden Wirtschaftskrise Lehrstellen ausschreiben.

Wer er ist, das ist für ihn anfangs noch klar: der ruhige, nachdenkliche Junge, der sich still und ehrgeizig im Turnverein Fichte am Barren hervortut. Dieser ganze Politkram, die Jugendorganisationen der verstrittenen und miteinander konkurrierenden Arbeiterparteien, das ist nichts für ihn. Überhaupt, im KPD-nahen Sportverein ist er nur, weil sein Vater, der „Rote Rudi“ mal Parteigenosse war; ausgetreten nicht, weil ihn Politik nicht mehr interessieren würde, sondern weil er die Ideale, für die er einst kämpfte, in der Partei nicht mehr lebendig findet.
Seine Leute: Rote der ersten Stunde. Vater und Mutter kämpften 1918/19 für eine wahrhaft klassenlose Gesellschaft ohne Krieg und Ausbeutung, der ältere Bruder und seine Frau Jutta, die Freunde der Familie, alle sind sie in der Arbeiterbewegung organisiert und schielen manchmal etwas ungläubig nach dem Nachzügler, dem Hänschen, der sich nicht recht für Parteiaufmärsche, Fahnenapelle und Arbeiterlieder begeistern will.
Und doch merkt Hans: Jetzt kommt eine Zeit, in der er sich mit so einer Familiengeschichte entscheiden muss, „für oder gegen seine Schwester Martha […]“ (Klappentext). Marthas Freund Günther ist schon 1932 in die SA eingetreten. Noch hat ihn niemand gezwungen, noch gäbe es zahlreiche Alternativen, sich politisch einzubringen. Aber Günther hat sich entschieden, und Martha will bei ihm bleiben. Martha, Hans‘ Martha! Aber ist das noch seine große Schwester, „mit der er herumbalgen konnte oder schmusen, streiten oder Verschwörungen aushecken“?
Kann man Marthas Hoffnung verstehen, endlich rauszukommen aus all dem Elend? Im Winter erfriert man fast in den Mietwohnungen, im Sommer ist es unerträglich heiß. Das Klo auf halber Treppe, geteilt mit dem ganzen Haus, Hunger, Krankheiten, kaum Freizeit, esseidenn, man ist eine oder einer der vielen Arbeitslosen, denen es noch elender geht. Martha glaubt, sich mit Günthers Hilfe daraus befreien zu können. Natürlich kann man das verstehen.
Zu lesen, wie Martha sich der Familie entfremdet, ist hart, und mir blieb vor allem das in Erinnerung. Murkel, der kleinste Bruder, fragt seinen Vater bang:

Wenn Kinder klein sind, haben ihre Eltern sie sehr lieb, nicht?“ Er hat auf einmal Tränen in den Augen.
Klar!“ Der Vater ist verblüfft. „Warum fragste denn sowas überhaupt?“
Weil… weil… wenn sie groß sind, dann haben ihre Eltern sie nicht mehr lieb.“
    
Klaus Kordon schafft es immer wieder, das Verstehen dafür stärken: Was hier passiert, ist wirklich passiert. Echte Menschen haben das erlebt. Und es könnte wieder geschehen. Hunger, Elend und Krieg waren mir fremd als deutsche Jugendliche des frühen 21. Jahrhunderts, das konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Aber eine Familie, Freunde und Bekannte hat fast jede*r.
Hans‘ Geschichte ist die Mittlere unter den drei Familienromanen. Und sowohl in persönlicher als auch politischer Hinsicht bildet seine Geschichte einen Dreh- und Angelpunkt. Helle, der älteste Sohn der Gebhards, erlebt im ersten Teil die Revolution zum Ende des ersten Weltkrieges als einen Neubeginn. Das Ende des Buches macht das auf poetische Weise deutlich:

Es ist eine wolkenlose Nacht, die Sterne glitzern kalt. Herr Flechsig hat mal darüber gesprochen, wie lange es schon Sterne gibt, hat gesagt, sie waren schon immer da und werden immer da sein. Wenn das stimmt, geht nichts zu Ende, geht das Leben immer weiter, was auch passiert. Ein schönes Gefühl.“

Hans, den man in „Die roten Matrosen“ als Baby, als unterernährtes, dauererkältetes Kriegskind kennenlernt, erscheint fast wie ein kleines Wunder in der Geschichte: Der Sohn überlebt das Ende des Krieges und die Wirren der ersten Jahre der Weimarer Republik. Krisen, Elend und Frust über den Versailler Vertrag überschatten die junge Demokratie, trotzdem: Kann das alles nicht nur besser sein als das alte Kaiserreich?
Und derselbe Hans ist es, der fast erwachsen den Niedergang der hart erkämpften, brüchigen Freiheit erlebt. Im dritten Band der Familiengeschichte, die im Frühjahr 1945 spielt, steht schließlich Hans‘ Nichte Änne (Helles Tochter) im Mittelpunkt. Der Krieg geht zu Ende, aber man spürt deutlich: Alles, was jetzt kommt, steht im Schatten dieser drei vorhergegangen Wendepunkte. Änne erlebt die Bombenangriffe der letzten Kriegsmonate, sieht, was kein Kind, kein Mensch sehen sollte, und doch hat sie Glück: sie hat Menschen, auf die sie sich verlassen kann.
Tante Mieze, Hans' Freundin, die für Änne wie eine Schwester ist, will ihr zärtlich Mut machen:

Da liegen wir zwei nun im Bett und spüren uns“, flüstert sie ihr da auch schon zu. „Ich dich – du mich. Zwei Menschen, die in eine Zeit hineingeboren wurden, die nicht gerade freundlich zu ihnen war. Aber wir leben, wir atmen, wir hoffen, wir träumen. Wenn man uns nicht wieder stört, werden wir von nun an ein ganz normales schönes, trauriges, lustiges, ernstes Leben führen.“

Klaus Kordon schreibt in einer einfachen Sprache, anschaulich und detailliert, aber immer nüchtern. Und gerade deshalb schmerzhaft. Habe fast alle seiner historischen Romane gelesen, aber für mich ist diese Trilogie noch immer ein besonderes, berührendes Leseerlebnis. 

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